Impfstoffe schwächen das Immunsystem von Kindern nicht
Hypothese
„Zu viele Impfungen und zu früh“: Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass das Immunsystem von Kindern nicht ausreichend entwickelt sei, um die Vielzahl an Impfungen zu ertragen, die im italienischen Impfplan vorgesehen sind. Man glaubt sogar, dass diese Impfungen das Immunsystem überlasten und es dadurch anfälliger für Krankheiten machen, gegen die keine Impfung verfügbar ist.
Ausgehend von dieser Hypothese wird daher eine Reduzierung der Anzahl der Impfungen sowie eine spätere Verabreichung als wünschenswert angesehen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse, welche die Hypothese widerlegen
1 - Die Fähigkeiten des Immunsystems von Kindern.
Die Fähigkeit des Immunsystems, auf als fremd erkannte Substanzen (exogene Antigene) zu reagieren, entwickelt sich bereits vor der Geburt. B- und T-Lymphozyten, die Effektorzellen unseres erworbenen Immunsystems, sind bereits ab der 14. Schwangerschaftswoche vorhanden und exprimieren eine enorme Anzahl antigenspezifischer Rezeptoren¹. Im Mutterleib sind exogene Antigene nur minimal vorhanden, weshalb die Lymphozyten bei der Geburt noch im „naiven“ Zustand sind. Neugeborene sind zunächst teilweise durch mütterliche Antikörper geschützt, die während der Schwangerschaft über die Plazenta (IgG) und durch die Muttermilch (IgA) übertragen werden. Dieser Schutz ist jedoch auf die Erreger begrenzt, gegen die die Mutter immun ist, und zudem zeitlich stark eingeschränkt: Die IgG-Spiegel sinken bereits in den ersten Lebensmonaten deutlich², und das Stillen – sofern es erfolgt – dauert meist nur wenige Monate³. Wichtiger noch: der Schutz, der durch eine aktive Immunantwort des Kindes entsteht, ist wesentlich stärker als jener, der durch passiv erworbene mütterliche Antikörper vermittelt wird. Das Immunsystem des Neugeborenen ist nämlich bereits in der Lage, sowohl komplexe humorale (durch Antikörper und andere Proteine) als auch zellvermittelte Immunantworten zu erzeugen⁴ ⁵.
Dies ist notwendig, um die ständigen Angriffe durch die Vielzahl von Mikroorganismen zu bewältigen, die in der Umgebung des Kindes vorhanden sind.
Auch im Hinblick auf Impfungen sind Neugeborene in der Lage, bereits wenige Stunden nach der Geburt eine schützende Immunantwort zu entwickeln⁵. Dies zeigt sich deutlich bei Neugeborenen von Müttern mit Hepatitis B: die Impfung gegen HBV direkt nach der Geburt, kombiniert mit Immunglobulinen, führt bereits in der ersten Lebenswoche zu einer schützenden Immunantwort⁶. Ein weiterer interessanter Befund ist, dass etwa 90 % der Kinder eine schützende Immunantwort auf die erste Impfserie entwickeln, die zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 2. Lebensjahr verabreicht wird⁷. Diese hohe Erfolgsrate ist auf die vollständige Fähigkeit des kindlichen Immunsystems zurückzuführen, eine humorale und zelluläre Schutzreaktion auf Impfstoffe zu erzeugen. Es ist daher offensichtlich, dass eine Verzögerung des Impfstarts nicht die Sicherheit erhöht, sondern vielmehr den Zeitraum verlängert, in dem das Kind für möglicherweise durch Impfungen vermeidbare Infektionen anfällig ist.
Ein besonders aussagekräftiges Beispiel ist der Keuchhusten, der sich bei Säuglingen atypisch äußert und selbst von Fachleuten schwer zu erkennen ist – mit potenziell lebensbedrohlichen Folgen, insbesondere in den ersten Lebensmonaten. Eine Studie an Kindern im Alter von 6 bis 24 Monaten zeigte, dass das Risiko einer Krankenhausaufnahme bei ungeimpften Kindern zehnmal höher ist als bei teilweise oder vollständig geimpften Kindern⁸.
2 - Impfstoffe überlasten das Immunsystem von Kindern nicht, und ihre gleichzeitige Verabreichung hat eine vergleichbare Wirkung wie die einzelne Gabe.
Wir leben nicht in einer sterilen Welt –wir sind ständig von einer Vielzahl von Mikroorganismen umgeben. Bereits bei der Geburt und in den ersten Lebensstunden wird ein Kind mehr als 400 verschiedenen Bakterienarten ausgesetzt. Da jeder dieser Bakterien zwischen 3.000 und 6.000 Antigene trägt, entspricht dies über 1.000.000 verschiedenen Antigenen⁹. Im Vergleich zu dieser enormen Anzahl an Umweltreizen ist die Menge an Antigenen in Impfstoffen verschwindend gering. Das menschliche Immunsystem kann auf eine enorme Anzahl von Antigenen reagieren: es wurde berechnet, dass ein Kind theoretisch auf etwa 10.000 gleichzeitig verabreichte Impfstoffe ansprechen könnte. Daraus ergibt sich, dass jede Impfsitzung nur einen winzigen Bruchteil der Kapazität des kindlichen Immunsystems beansprucht. In den USA erhalten Säuglinge gleichzeitig 11 Impfstoffe – dies entspricht nur etwa 0,1 % ihrer theoretischen Immunleistung. Da naive B- und T-Lymphozyten ständig neu gebildet werden, wird das Immunsystem dabei nicht „überlastet“¹⁰.
Vergleicht man die Antigenbelastung durch eine tatsächliche Erkrankung mit der durch den entsprechenden Impfstoff, zeigt sich erneut, wie gering die Belastung durch Impfstoffe ist. Ein Beispiel ist Hepatitis B: während einer Woche Krankheit ist der Körper einer Belastung von 1.162 Mikrogramm Antigen pro Stunde ausgesetzt, während der Impfstoff insgesamt nur 30 Mikrogramm in drei Dosen enthält¹¹.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass das Immunsystem von Kindern auf gleichzeitig verabreichte Kombinationsimpfstoffe genauso reagiert wie auf einzeln verabreichte Impfstoffe. Klinische Studien zeigen, dass die gleichzeitige Gabe des Sechsfachimpfstoffs (Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, Haemophilus b, Hepatitis B) und des 13-valenten Pneumokokkenimpfstoffs weder zu einer Zunahme schwerer Nebenwirkungen führt noch eine geringere Immunantwort erzeugt¹². Diese Übereinstimmung wurde auch für folgende Impfstoffkombinationen bestätigt: MMR (Masern-Mumps-Röteln) und Varizellen¹³ ¹; MMR, DTPa (Diphtherie-Tetanus-Pertussis) und OPV (orale Polioimpfung)¹⁵; Hepatitis B, Diphtherie-Tetanus und OPV¹⁶; Influenza und Pneumokokken¹⁷; MMR, DTPa-Hib und Varizellen¹⁸; MMR und Hib; DTPa und Hib¹⁹.
Würden Impfstoffe das Immunsystem tatsächlich schwächen, wäre eine gleichzeitige Verabreichung nicht möglich – man würde eine reduzierte Immunantwort erwarten.
Im Gegenteil: Mehrere Impfungen in einer Sitzung bedeuten weniger Stress für das Kind und erhöhen die Einhaltung des Impfplans. Man kann sich leicht vorstellen, welchen psychologischen Stress ein Kind erleiden würde, wenn es laut aktuellem Impfkalender über 20 Injektionen in den ersten zwei Lebensjahren erhalten müsste, um vollständig geschützt zu werden.
3 - Die Anzahl der Antigene, denen Kinder durch Impfungen ausgesetzt sind, ist heute deutlich geringer als in der Vergangenheit.
Ein Antigen ist eine Substanz – meist ein Protein oder Polysaccharid – die eine Immunantwort auslösen kann. Obwohl heute mehr Impfstoffe verfügbar sind als früher, ist die Anzahl der Antigene, die Kindern verabreicht werden, deutlich gesunken¹⁹. Neben der Abschaffung des Pockenimpfstoffs, der eine große Menge an Antigenen enthielt, hat die moderne Impfstofftechnologie dazu geführt, dass viele Impfstoffe nur einzelne Antigene enthalten und nicht mehr den gesamten Mikroorganismus. Ein Beispiel ist der Pertussis-Impfstoff: der frühere Ganzkeimimpfstoff enthielt etwa 3.000 Antigene, während der heutige azelluläre Impfstoff nur noch 3 Antigene enthält²¹. Dank der gestiegenen Anzahl und Qualität der verfügbaren Impfstoffe können Kinder heute gegen deutlich mehr Krankheiten geschützt werden als früher.
In den 1960er- und 1970er-Jahren erhielt ein italienisches Kind – je nach verwendetem Impfprogramm – pro Impfdosis folgende Anzahl an Antigenen²⁰ (Tabellen erstellt von Franco Giovanetti – Abteilung für Prävention, ASL CN2 Alba Bra, Region Piemont):
- Kind, das nur die Pflichtimpfungen erhielt:

- Kind, das auch gegen Keuchhusten geimpft wurde (wie von einem Teil der Kinderärzte empfohlen):

Das sind die Antigene pro Impfdosis, welche ein Kind im ersten Lebensjahr bis heute erhält22 23:

Unter Berücksichtigung der im zweiten Lebensjahr vorgesehenen Impfungen ergibt sich die Gesamtzahl der Antigene pro Impfdosis in den ersten beiden Lebensjahren wie folgt:

So ist man von einer maximalen Anzahl von 3.215 Antigenen pro Impfdosis (Schutz gegen 5 Krankheiten) bei Kindern, die in den 1960er- und 1970er-Jahren geboren wurden, zu 253 Antigenen (Schutz gegen 14 Krankheiten) bei heutigen Kindern übergegangen. Dies ist dem Einsatz gezielterer und effizienterer Impfstoffe im Vergleich zur Vergangenheit zu verdanken.
4 - Impfstoffe schwächen das Immunsystem nicht – im Gegenteil, einige stimulieren es unspezifisch.
Manche Menschen behaupten, dass Impfstoffe das Immunsystem von Kindern schwächen und sie dadurch anfälliger für andere Infektionen machen. Wäre dies zutreffend, müsste man bei geimpften Kindern eine höhere Häufigkeit von nicht impfpräventablen Erkrankungen beobachten – doch zahlreiche wissenschaftliche Studien haben dies eindeutig ausgeschlossen²⁴ ²⁵. Eine aktuelle amerikanische Studie hat gezeigt, dass geimpfte und ungeimpfte Kinder gleich häufig erkranken²⁶ – mit dem Unterschied, dass ungeimpfte Kinder auch an Krankheiten leiden, gegen die sie durch Impfungen geschützt sein könnten.
Es wurde sogar die Hypothese aufgestellt, dass bestimmte Impfstoffe – wie der Masernimpfstoff – eine unspezifische Stimulation des Immunsystems bewirken, die zu einer geringeren Anfälligkeit für andere Infektionen führt²⁷. Eine in Deutschland durchgeführte Studie zeigte, dass Kinder, die im dritten Lebensmonat gegen Diphtherie, Pertussis, Tetanus, Hib und Poliomyelitis geimpft wurden, nicht nur einen spezifischen Impfschutz entwickelten, sondern auch eine verbesserte Immunantwort gegenüber anderen Infektionen im Vergleich zu ungeimpften Kindern²⁸.
Zudem ist es wichtig zu betonen, dass manche Infektionen selbst die Anfälligkeit für schwerere und invasivere Folgeinfektionen erhöhen können – wie etwa Windpocken, welche die Empfänglichkeit für eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe A steigert und zu schweren lokalen oder systemischen Krankheitsbildern führen kann²⁹.
Schlussfolgerungen
Kinder sind vollkommen in der Lage, angemessen auf Impfstoffe anzusprechen. Diese überlasten ihr Immunsystem nicht, sondern können sogar gleichzeitig verabreicht werden und dabei eine ausgezeichnete Immunantwort hervorrufen. Die Impfung schützt nicht nur gezielt vor den Krankheitserregern, gegen die sie gerichtet ist, sondern verhindert auch die Schwächung des Immunsystems durch diese Infektionen. Dadurch wird das Immunsystem zusätzlich gegenüber anderen Umweltpathogenen stimuliert, mit denen das Kind in Kontakt kommt.
Daher ist eine Verzögerung oder Reduzierung des Impfprogramms im Kindesalter weder stärkend noch schützend – im Gegenteil, sie setzt Kinder unnötigen Risiken aus, die durch Impfungen vermeidbar wären.
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