Der wissenschaftliche und soziale Wert der Impfung

Die Impfung stellt eine der wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen in der Geschichte der Medizin dar und hat wesentlich dazu beigetragen, die Lebenserwartung der menschlichen Bevölkerung zu erhöhen.

Der Fortschritt in der Wissenschaft hat die Wirkungsmechanismen von Impfstoffen aufgeklärt, deren Anwendung zunächst experimentell erfolgte. Die Fortschritte der letzten Jahrzehnte in den Bereichen Bakteriologie, Virologie, Immunologie und mathematische Modellierung bei Infektionen haben in der medizinischen Forschung Horizonte eröffnet, die früher undenkbar waren1. Neben der zunehmenden Verfügbarkeit neuer Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten macht heute die Forschung im Bereich Impfstoffe gegen Krebserkrankungen, Bluthochdruck, degenerative Erkrankungen des Nervensystems und gegen Suchterkrankungen große Fortschritte.

Die Impfung wurde als eine der größten medizinischen Entdeckungen bezeichnet, die jemals vom Menschen errungen wurden. Ihre Bedeutung ist aufgrund ihrer gesundheitlichen Auswirkungen vergleichbar mit der Möglichkeit einer Trinkwasserversorgung der gesamten Bevölkerung2.

Aus diesem Grund werden Impfungen unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewertet und eine großangelegte Verwendung wurde aufgrund ihres Nutzens in Bezug auf epidemiologische und klinische Ergebnisse in Betracht gezogen.

Das Wirkprinzip von Impfstoffen ist die aktive Immunisierung gegen Infektionen durch Exposition gegenüber einer sehr kleinen Menge inaktivierter Infektionserreger (Viren oder Bakterien, abgetötet oder abgeschwächt oder häufig von Teilen davon), die durch Nachahmung der natürlichen Infektion, alle Erkennungs- und Abwehrmechanismen des Immunsystems aktivieren, ohne Krankheit zu verursachen. Sie werden in die Lage versetzt, den Erreger bei einer eventuellen Ansteckung zu eliminieren.

Natürlich waren diese Mechanismen nicht bekannt, als der erste Impfstoff (gegen Krätze: Edward Jenner 1749-1823) eingeführt wurde, da die Impfung damals nach einem empirischen Prinzip durchgeführt wurde. Erst später wurden aufgrund der Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaft viele der Gründe für die Wirksamkeit von Impfstoffen unter kontrollierten Bedingungen (experimentelle Studien) und im Feld ("Effectiveness") geklärt. Insbesondere die Entdeckungen auf dem Gebiet der Bakteriologie (seit Louis Pasteur) und der Virologie zwischen dem Ende des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machten es möglich, Wirkmechanismen zu erklären, aber auch neue Impfstoffkandidaten zur Vorbeugung von gefürchteten Infektionskrankheiten zu finden. Die Entwicklung von Zellkultursystemen für Viren in den späten 1940er Jahren (auch dank der Nobelpreisträger Enders, Weller und Robbins) gab der Forschung an inaktivierten und abgeschwächten viralen Lebendimpfstoffen weitere Impulse.

Wenn man über die Mechanismen der Impfstoffkunde und ihre Geschichte nachdenkt, erscheint es höchst unangebracht, dass einige Gruppen heute den Impfungen alternative Medikamente wie die Homöopathie entgegensetzen wollen, da die Impfung, wie oben beschrieben, ein homöopathisches Verfahren par excellence ist. Dies wurde vom Gründer der Homöopathie (Samuel Hahnemann 1755-1843) selbst mit Similia similibus curantur definiert: Krankheiten werden mit ihresgleichen geheilt, das heißt mit Medikamenten, die beim gesunden Menschen die charakteristischen Symptome der zu bekämpfenden Krankheit hervorrufen. Der Unterschied besteht darin, dass die Impfung nach dem „Prinzip des Ähnlichen“ (im Gegensatz zu dem philosophisch der traditionellen Medizin zugeschriebenen Prinzip der Gegensätze) der Ansteckung vorausgehen muss. Daher könnten wir die Impfstoffforschung sogar als homöopathische Präventiv-„Wissenschaft“ definieren. Der Begriff „Wissenschaft“ muss hervorgehoben werden, denn abgesehen von der Frage, ob das Prinzip philosophisch als „des Ähnlichen“ oder „des Gegenteils“ der Krankheit bezeichnet werden kann, kommt es darauf an, dass es aus wissenschaftlicher Sicht wirksam und bewiesen ist.

Gerade in dem sich ständig weiterentwickelnden Bereich der Immunologie kann die Wirkung der Impfstoffe aufgrund fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse bewiesen werden, sowohl bezüglich weiterer Möglichkeiten zur Interpretation der Wirkungsmechanismen als auch bezüglich vieler Möglichkeiten, immer neue Ansätze der Vorbeugung und Behandlung zu erforschen.

Auf der anderen Seite sind Impfstoffe ein hervorragendes Prüfsystem für die neuen Grenzen der Immunologie. Die Vorstellungen von angeborener Immunität, die sich seit den neunziger Jahren und vor allem in den zehn Jahren seit den Studien von Janeway und dessen Mitarbeitern3 gefestigt haben, öffnete in der Impfstoffforschung neue innovative, insbesondere in Bezug auf die Erforschung und Entwicklung neuer Systeme zur Unterstützung der in Impfstoffen verwendeten Antigene. Gleichzeitig lässt das erworbene Wissen der letzten Jahre über die Bedeutung regulatorischer T-Lymphozyten (Zellen, die in der Lage sind, die Aktivierungsreaktionen des Immunsystems zu unterdrücken) bereits die zukünftigen Fortschritte bei Forschungen an Impfstoffen zum Schutz vor Autoimmunerkrankungen erahnen. Eine weitere Grenze mit vielfältigen, heute unvorhersehbaren Auswirkungen, wird sicherlich überschritten werden, denn Impfstoffe sollen in Zukunft nicht nur ihre traditionelle Funktion als Instrumente zur Vorbeugung von Infektionskrankheiten erfüllen, sondern zusätzlich auch chronisch-degenerative Krankheiten heilen. In der Zukunft werden wir in der Lage sein, alle möglichen Auswirkungen der derzeit in der Forschungsphase befindlichen neuen immunologischen Therapien zu überprüfen. Bereits jetzt lassen die vielfältigen Forschungen zur „Impfstoff“ -Behandlung von Tumoren (Melanom, Brustkrebs, „nicht-kleinzelligem“ Lungenkrebs usw.), Bluthochdruck, Alzheimer-Krankheit und zur Entwöhnung von Abhängigkeiten (Impfstoffe gegen Nikotin und Kokain) auf eine wissenschaftliche Zukunft von großem Interesse für die Impfwissenschaft schließen.

Darüber hinaus ist inzwischen bekannt, dass die Vorteile von Impfungen nicht auf die Verbesserung klinischer oder epidemiologischer Situationen wie die Vorbeugung von Krankheiten und deren Folgen mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen beschränkt sind, sondern auch das Wirtschaftswachstum der Länder sowie die Verringerung der Armut fördern können4.

Daher ist der wirtschaftliche Wert von Impfungen neben dem wissenschaftlichen ein Aspekt, der zumindest theoretisch die maximale Verbreitung begünstigen sollte. Leider führt die Wirtschaftskrise in den Industrieländern auch im Gesundheitswesen zu einer notwendigen Kostenrationalisierung. Es wird weniger in Impfstoffe investiert, obwohl sie immer sicherer und wirksamer werden. Tatsächlich tendiert die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger eher zur Ersparnis als zur Investition, mit dem Ergebnis, dass Impfungen nur dann sofort in Betracht gezogen werden, wenn sie aus Sicht des Gesundheitsdienstes zu Einsparungen führen und der Return on Investment kurzfristig ist.

Darüber hinaus sollte zu den klinisch-epidemiologischen und wirtschaftlichen Werten der Impfungen auch der soziale Wert der Impfpraxis hinzugefügt werden.

Der soziale Charakter der Impfung war in der Tat ein Hauptgrund für ihre Einführung. Seit den Zeiten von Edward Jenner wurde sie immer öfter angewendet und es gab schon immer lebhafte Debatten zwischen Impfbefürwortern, die sich auf die positive Wirkung der Impfstoffe beriefen und Impfgegnern (oft aus ideologischen Gründen), manchmal sogar die Behörden selbst, die ihre Verwendung hätten empfehlen sollen.

Das Phänomen des gemeinschaftlichen Schutzes, der mit vielen Impfstoffen nach dem Erreichen einer hohen Immunabdeckung in der Zielbevölkerung, besser bekannt als „Herdenimmunität“, garantiert werden kann, stellt seit jeher den Mehrwert der Impfung auf sozialer Ebene dar. Gerade aus diesem Grund ist es unvorstellbar, dass die Vorteile der Impfung nicht gleichmäßig für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen.

Dies ist auch die historische Begründung für die Impfpflichtpolitik, die mit den Impfungen einherging.

Wie so oft im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Anwendungswissenschaft, in der der experimentelle Ansatz ursprünglich verwendet wurde, um konkrete Antworten auf Gesundheitsprobleme zu finden), gingen der Einführung der Vorbeugung durch Impfung in großem Maßstab und der Feststellung der Wirkung bezüglich Sterblichkeit und Morbidität tödlicher Krankheiten (wie Pocken, Tollwut, Pest, Cholera, Diphtherie und andere) manchmal viele Jahrzehnte der Demonstration von Mechanismen voraus, mit denen der Impfstoff schützt.

Der soziale Wert von Impfungen spiegelt sich sowohl im Einzelnen als auch in der Gemeinschaft wider. Die Durchimpfungsrate gegen die meisten Krankheiten ist hoch, die Zirkulation des verantwortlichen Mikroorganismus wird eingedämmt und folglich ein umfassender Schutz der Gemeinschaft gewährleistet, auch der Schutz von nicht Geimpften. Die Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung sind daher erheblich in Bezug auf die Eindämmung der Schäden der Krankheit oder ihrer Komplikationen (Morbidität, Mortalität, Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, Krankenhausaufenthalte) und die Reduzierung der direkten und indirekten Kosten.

Infektionskrankheiten kennen keine geografischen und/oder politischen Grenzen und alle, aber insbesondere die durch Impfung vermeidbaren Krankheiten, erfordern einen globalen und nicht-lokalen Ansatz zur  Prävention und Kontrolle: Die großen Kämpfe der WHO zur Beseitigung oder Ausrottung einer Infektionskrankheit werden oft auf der Grundlage globaler Impfstrategien durchgeführt Solche Strategien erfordern notwendigerweise den Abbau ideologischer und politischer Barrieren, aber auch wirtschaftlicher und kultureller Hindernisse zugunsten eines kollektiven und globalen Ansatzes zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung.

Auch die Europäische Union möchte die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Gesundheitspolitik fördern, da sich das Phänomen der Globalisierung tendenziell ausdehnt und die Grenzen zwischen den Ländern der Europäischen Union immer weniger relevant werden.

In Italien stellt der Nationale Impfplan (PNV) 2012-20145 das Referenzdokument im Impfbereich dar; darin werden unter anderem die Gesundheitsziele und die entsprechenden Ziele festgelegt, die durch die Impfungen erreicht werden sollen und die dazugehörigen Auswahlstrategien festgelegt. In der 2001 in Kraft getretenen Änderung des Titels V der Verfassung wurden die Bereiche der ausschließlichen oder konkurrierenden Gesetzgebung des Staates und der Regionen festgelegt, wobei der Gesundheitsschutz zur konkurrierenden Gesetzgebung zählt. Die erworbene Autonomie der einzelnen Regionen bezüglich der Wahl der Impfmethoden und der Entscheidung, ob Impfungen kostenlos angeboten werden oder nicht, schwächt das Prinzip der Gerechtigkeit im „Recht auf Gesundheit“, das als Schlüsselelement des italienischen Gesundheitswesens gilt. Ungleichheiten im Gesundheitswesen stehen im Gegensatz zu den gemeinsamen Werten der sozialen Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit für die Bevölkerung. Tatsächlich zeigen die Erfassungsdaten sowohl geografische als auch sozioökonomische Ungleichheiten, die selbst im Nationalen Impfplan als „ungerecht und verfassungswidrig“ bezeichnet werden.

Im Allgemeinen spielt eine geringere gesundheitliche Ungleichheit nicht nur eine ethische, sondern auch eine wirtschaftliche Rolle: Die Kosten bezüglich Krankheit, Behinderung und vorzeitigem Tod stellen in der Tat enorme Hindernisse für die Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft dar.

Obwohl diese Konzepte geteilt werden, ist das Impfangebot nicht in allen Regionen des Landes gleich und in mancher Hinsicht ungerecht. Manche Regionen sind der Meinung, dass Prioritäten bei der Bewertung der Eingriffe gesetzt werden müssen und führen in diesem Zusammenhang die Geldmittel an, die für Vorbeugungsmaßnahmen zur Verfügung stehen („es ist besser, die Geldmittel einzusetzen, um die dringendsten Gesundheitsprobleme wie zum Beispiel Masern-Erkrankungen vorzubeugen als Impfungen zu planen, die erst kürzlich eingeführt wurden und daher als weniger dringlich erachtet werden“). Andere Regionen sind der Meinung, dass jede Impfung zum Schutz der Bevölkerung, insbesondere der Kinder, die sich als wirksam und sicher erwiesen hat, zur Verfügung gestellt werden sollte.

In sozialer Hinsicht nimmt die Impfung jedoch eine der höchsten Positionen in der Rangliste der Gesundheitstechnologien ein, basierend auf den Kosten pro gewonnenem Lebensjahr und vermiedenen Krankheitsfällen, das heißt, die Ausgaben für Impfstoffe sind eine der besten und rentabelsten Möglichkeiten für die Gesellschaft und das Gesundheitswesen, die knappen verfügbaren Ressourcen zu investieren. Trotzdem geht das italienische Gesundheitswesen leider stiefmütterlich mit den Impfkampagnen um, die im Nationalen Gesundheitsfonds mit weniger als einem Promille bedacht werden. Diese Philosophie löst einen Sanduhr-Effekt aus: Mehr Geldmittel in Impfungen zu investieren lohnt sich, auch hinsichtlich menschlicher Ressourcen, Schulung, technologischer Ausstattung und Glaubwürdigkeit. Man muss sich immer den „Faktor“ Ressourcen vor Augen halten, insbesondere in einem historischen Moment, in dem einige Regionen wegen finanzieller Probleme kommissarisch verwaltet werden. Während die Vorsorge innerhalb des Gesundheitssystems zunehmend an Bedeutung gewinnt, unter anderem als Ausdruck einer Veränderung der Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung, erleben wir auf der anderen Seite einen kontinuierlichen Personalmangel. Folglich müssen sich Hygieniker, Kinderärzte und Hausärzte je nach eigenen Möglichkeiten, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten in Zusammenarbeit mit den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Interessenträgern engagieren, um die korrekte Anwendung von Impfstoffen zu fördern und den unbestrittenen sozialen Wert von Impfungen zu sichern. Ein Gut aller italienischen Staatsbürger, unabhängig von Sozialstatus und Wohnort.

Quellen / Bibliographie
  1. Anderson, R. M.; May, R. M. Infectious diseases of humans: dynamics and control. Oxford and New York: Oxford University Press, 1991.
  2. http://ecdc.europa.eu/en/healthtopics/immunisation/Pages/index.aspx
  3. Janeway CA Jr, Medzhitov R. Introduction: the role of innate immunity in the adaptive immune response. Semin Immunol 1998; 10: 349-350.
  4. Bloom DE. The value of vaccination. Adv Exp Med Biol. 2011;697:1-8.
  5. Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana (Suppl. Ordinario del 14 aprile 2005)- Piano Nazionale Vaccini 2005-2007